Anthologien
Hier finden sie meine veröffentlichten Texte in den Anthologien.
Zeitschrift Bd. 32 / Jahrbuch für Lyrik, Essay und Kritik
Menschlichkeit. Die Poesie der Nähe
Der Sterbende
von Bernhard Brack, Dezember 2024
Der Sterbende
Bereits in einem Zwischenland
Wühlt er sich durch Worte
Deren Zusammenhänge
Ich zu verstehen versuche
Hast du gesagt
ein Lächeln huscht vorbei?
Ja … Ich muss die Worte erst duschen
Bevor sie zu mir kommen …
Gib mir ein weisses Tuch
Steht es für Frieden?
Den hatten wir
Zu Hause viel zu wenig
Wir gehen durch Räume
Seiner Vergangenheit, singen
Alte Lieder, bei denen er
Friede empfunden hatte
Zum Abschied sagt er
Du gehst schon? Bitte gib mir
deine Telefonnummer
Die hast du schon
Ein Lächeln huscht über sein Gesicht
Ich verstehe: Er meint die Nummer
Mit der er mich von dort aus erreicht
Gedicht von Bernhard Brack, Dezember 2024
aus: «Zeitschrift Bd. 32 / Jahrbuch für Lyrik, Essay und Kritik«
Die Zukunft wird sonnig! Nach Abwendung einer weltweiten Krise entsteht eine utopische Gesellschaft. Jahre später fragt die nächste Generation die Älteren: Wieso wandelte sich die Welt vom rücksichtslosen Profitdenken hin zu Solidarität und gemeinsamer Zuversicht?
Die letzte Radtour mit Grossvater
von Bernhard Brack, Dezember 2024
Von jenem Tag an, als ich der Erde über die hohe blaue Stirne streifte, mit den Fingerspitzen die Wolkenrippe ertastete und ihr die Strähnen der Flugzeugbahnen aus dem Gesicht strich, war nichts mehr wie vorher. Höchstens die Ahnung vielleicht, einmal ein Mensch gewesen zu sein, der auf der Erde rumwuselte.
«Woher hast du das?», fragte der alte Mann.
«Aus deinen Tagebüchern, Grossvater. Wir haben doch gesagt, wir würden deine Tagebücher auf die Radtour mitnehmen.»
«Das habe ich geschrieben? Du meine Güte, das muss vor der grossen Katastrophe gewesen sein.»
Die Isar war noch ein kleiner rauschender Bach, der von den Bergen her einen kühlen Wind mit sich führte. Die grossen Steine im Bachbett, die von stets frischen Wellen übergossen wurden, glänzten in der Sonne. Die beiden kauten an einem Brot, das mit Trockenfrüchten gespickt und mit einer Mischung aus Pilzfäden und Knospen belegt war.
«Wie war das nach der Katastrophe 2027, Grossvater?», fragte Salome.
«Diese Dunkelheit, mein Gott, diese Dunkelheit! Wir sassen in einem Keller, die meisten an eine Betonwand gelehnt, einige im Schneidersitz. Hier und dort leuchtete die Lampe eines Mobiltelefons, in deren Schein ein Vater ein Baby wickelte oder eine junge Frau in einem Buch las. Die Babys schrien kaum, waren ganz in sich gekehrt. Sie schienen die Gefahr am deutlichsten zu spüren. Niemand liess die Lampe länger brennen, denn es hiess, die Elektrizität könnte uns bald ausgehen. Die von radioaktiven Strahlen mutierten Heuschrecken hatten zuerst vom Land und später auch von den Städten Besitz ergriffen. Ich weiss noch, als ich vom Studierzimmer in die Küche ging: Der Boden, der Tisch, die Ablage, jeder Quadratzentimeter war von Heuschrecken besetzt. Mit jedem Schritt zertrat ich drei oder vier. Das gruselige Knacken unter meinen Füssen werde ich nie mehr vergessen. Ihre Ausscheidungen weichten den Beton auf, den sie danach frassen. Häuser, Fabriken und Atomkraftwerke drohten einzubrechen. Wir assen in Mikrowellen gewärmte Bohnen aus Dosen oder fermentierte Früchte, alles, was wir eingebunkert hatten, bevor der Krieg ausbrach; erst im Nahen Osten, dann zwischen Nord- und Südkorea, schliesslich zwischen Russland und Europa, bis er sich über die ganze Welt ausbreitete. Wir assen während des Krieges die Angst, die wir vor dem Krieg hatten.»
«Hattet ihr keinen Kontakt mehr zur Aussenwelt?», fragte Salome.
«Doch. Einmal pro Tag durfte jemand im Astronautenanzug nach oben gehen zur Abgabestelle der Nahrungsmittel, und er durfte Gegenstände holen, die wir benötigten: Kleider, Decken, Bücher, Schreibzeug … Es wurde immer weniger, was wir benötigten, immer weniger, was wir assen, einige begannen zu fasten. Durch an den Decken befestigte Lautsprecher erreichten uns Durchsagen: ‹Achtung, Achtung! Wir bitten Sie, in den Luftschutzkellern zu bleiben. In wenigen Minuten wird ein biologisch abbaubares Gift über Europa versprüht, um der Heuschreckenplage Herr zu werden. Es wird Wochen, vielleicht sogar Monate dauern, bis ihr den Luftschutzkeller ohne Astronautenanzug verlassen könnt.’«
«Wie erging es euch im Keller nach Wochen des Wartens und der Ungewissheit?»
«Es geschah etwas Eigenartiges. Indem wir weniger besassen, kam das Gefühl auf, weniger zu brauchen. Unserer Begierden, die sich gegenseitig nachjagten und in denen stets neue aufploppten, kaum waren sie befriedigt, setzten sich wie aufgewühlter Schlamm nach einem Sturm. Stille trat ein. Eine erhabene Stille, die so tröstlich war, dass vielen Wasser in die Augen trat. Wir begriffen oder vielmehr wir erahnten, dass die Stille in uns auch in den andern war, in jedem Ding, in den Backsteinen des Fundamentes wie in den Ziegeln auf dem Dach. Wir glaubten, Spinnen über die Wände kriechen zu hören und das Herabrieseln von Mikroteilchen des Verputzes. Sie waren Teil von uns, sie kooperierten mit uns an einem Werk, dessen Dimension uns überstieg. Doch dieser Zustand hielt nicht an.»
Salome wurde von einer Brise ins Gesicht, die ihre Haare verwirbelte und einzelne über Stirn und Wange streifen liess, ins Jetzt zurückgeholt. Sie hörte das Rauschen der Isar, das je nach Wind anschwoll oder verebbte und eine solche Vielfalt von Klängen anbot, dass sie glaubte, eine Melodie von Mozart zu hören. Es war die Melodie, der sie heute Morgen gelauscht hatte, bevor sie mit Grossvater auf die Radtour ging.
«Sollen wir wieder los?», fragte Salome. «Du kannst mir auf dem Rad erzählen, wie es weiterging.» Er nickte. Sie räumten die Essensreste in die Radtaschen und fuhren los, sie hinter ihm.
Das Anfahren, das langsame sich Lösen von dem, was war. Zu sich kommen im Fahrtwind, jedes Steinchen auf dem Asphalt spüren, jede Rippe, jeden Riss, eine sanfte Erschütterung am Gesäss.
Sie fuhren durch einen Wald der Isar entlang. Morgendlicher Regen hatte die Luft aufgefrischt. Vom Asphalt her roch es nach Teer, darüber schwebten Düfte nach Tannennadeln und Harz.
«Vor sechzig Jahren mussten wir auf der Hauptstrasse fahren. Der aggressive Lärm von Motoren schwappte über uns und es stank nach Benzin und verbrannter Erde. Der Autolärm vermüllte die schönsten Täler.»
«Jetzt nur noch Elektroautos, und nur ganz wenige», sagte Salome und betrachtete, während sie in ruhigem Rhythmus dahintrampten, einen Lichtstrahl, der durch dichten Wald auf die Rinde einer kleinen Tanne fiel und sie glutrot erstrahlen liess. Diese Ellipse, aus modriger Dunkelheit gehoben, berührte sie mit ihrer schlichten Schönheit.
«Erzähle weiter, Grossvater, wie war das im dunklen Keller?»
«Wir kamen alle aus verschiedenen Ländern, hatte verschiedene ethnische und religiöse Hintergründe. Doch in der Stille lernten wir, einander zuzuhören, mit dem andern mitzugehen oder auch stehen zu bleiben und den eigenen Standpunkt zu erläutern. Die Durchsage vom Lautsprecher, es gebe wieder frische Früchte und Gemüse, veränderte alles. Wir verwandelten uns in gierige Tiere. Jeder und jede wollte den Astronautenanzug, um an der Verteilzentrale als erster in eine Frucht oder in knackiges Gemüse zu beissen. Es taten sich zum Glück einige Männer und Frauen hervor, um unsere Gier zu begrenzen und für eine gerechte Verteilung zu sorgen. Nachdem die Krise überwunden war, traten sie zurück, reihten sich wieder als Teil der Gemeinschaft ein. Da brach ein Sonnenstrahl in die Dunkelheit unseres Kellers. Kleine Staubpartikel schwammen darin und es schien uns, als seien sie Raumschiffe, die durch das Universum schwebten. Andächtig sassen wir vor dem Lichtstrahl, ergriffen von einem Gefühl der Offenheit und Freiheit, als plötzlich jemand in Panik schrie: «Ein Riss! Ein Riss! Radioaktive Strahlen können in unseren Keller eindringen!» Es bildete sich eine wild kreischende Menschenmenge um den Riss. Alle versuchten, ihn zu verdecken.»
Salome fragte sich, wie sie reagiert hätte.
«Tatsächlich hatten die Heuschrecken eine Öffnung durch die Betondecke gefressen, in der durch die Spannung ein Riss entstanden ist. Doch die Regierung gab Entwarnung: Die Heuschreckenplage war besiegt, und in den Atomkraftwerken sind keine weiteren Vorfälle geschehen. In einigen Wochen, so die Mitteilung, könnten wir die Erde wieder betreten.»
Sie radelten dem Sylvensteinsee entlang, ihre Blicke gerichtet auf die glitzernden Flächen, die sich je nach Windböen änderten, ineinandergriffen, sich auflösten; ein faszinierendes Spiel der Riffelung.
«Es war die Schönheit der Natur, die wir wiederentdeckten, als wir die Keller nach Monaten wieder verlassen durften. Eine Erdkrume auf einem noch nicht ganz entfalteten Keimling. Eine Tautropfenreihe auf einem Blattnerv. Ein Spinnennetz, deren Fäden im Sonnenlicht vibrierten. Eine Schönheit, die so unscheinbar war und doch unverletzlich und kraftvoll. Da wir alle aus der Stille kamen – von überallher krochen Menschen aus den Kellern – fanden wir einen anderen Umgang miteinander, waren mitfühlender geworden, achtsamer.»
Sie trampten einen Anstieg am Fuss des Brandkopfs hoch und kamen ins Schwitzen.
«Glaubst du, dass wir es rechtzeitig schaffen bis zur Gerichtsverhandlung in München?», fragte Grossvater.
«Ich glaube schon. Und sonst nehmen wir den Vaku.»
«Den Vaku?»
«Ein Zug, der unter der Erde durch vakuumierte Röhren gleitet. Ohne Luftwiderstand braucht er fast keine Energie.»
Salome staunte immer wieder darüber, dass sich ihr Grossvater an das Erwachsenenalter und weiter zurück gut erinnerte, seit seinem Unfall aber in den 2050er Jahren fast alles vergessen hatte. Damals wurde eine partielle Amnesie diagnostiziert. Erst kürzlich hatte er sie gefragt, weshalb es kaum noch Flugzeugstreifen am Himmel gebe, und sie hat ihm erklärt, das sei wegen dem Vaku.
«Weisst du was, Grossvater? In Bad Tölz nehmen wir uns ein Hotelzimmer.»
«Das ist eine gute Idee, Salome.»
Im Anschwellen des Fahrtwindes rollten sie hinab zu der Isar. Sie begegneten Radfahrern, die ihnen entgegenkamen: die einen nickten, andere grüssten oder hoben die Hand. Das Geheimnis des Grusses. Die unsichtbare Brücke zwischen Menschen, die weit entfernt sind voneinander, vielleicht sogar nichts miteinander zu tun haben. Grüss Gott. Welchen Gott eigentlich?
«Grossvater, in deinen Tagebüchern des Aufbruchs zitierst du oft Rumi. An ein Zitat erinnere ich mich: When a Christian longs to be forgiven, the priest disappears in that longing. Water flows out of the ground over a stone. No one calls it a stone anymore. Warum gerade Rumi?»
«Die Katastrophe von 2027 verstärkte die Migrationswellen. Ländereien, die verseucht waren, unter Wasser standen oder wegen extremen Temperaturunterschieden nicht mehr bewirtschaftet werden konnten, mussten verlassen werden. Es fand eine noch nie dagewesene Durchmischung von Ethnien, Kulturen und Religionen statt. Bei dem Prozess der Anpassung bei gleichzeitiger Rückbesinnung auf die eigene Identität gewannen die Menschenrechte an Bedeutung, und das, woraus sie aus spiritueller Tiefe genährt werden. Da entdeckte ich Rumi. Mit seinen mystischen Bildern, seinem Humor und seinem Tiefgang erfasst er den Kern unterschiedlicher Religionen. Aber er wurde nie zu meinem Guru. Er verschwand in meiner Sehnsucht nach Gott.»
«Und diese Sehnsucht war spürbar in jenen Zeiten?»
«Ja. Vielleicht war die Katastrophe notwendig, um uns diese in ihrer ganzen Dringlichkeit ins Bewusstsein zu rufen. Lange Zeit hiess es, die Menschheit muss überleben. In den Zeiten des Aufbruchs rückte die gesamte Schöpfung in den Vordergrund. Entwicklungsfreundlich ist, was neben den körperlichen ebenso sehr die seelisch-geistigen Dimensionen aller Wesen berücksichtigt. Auf ihren höchsten Entwicklungsstufen wird die Schöpfung und mit ihr die Menschheit sowieso verschwinden.»
«Schmerzt dich dieses Verschwinden?»
«Früher schon. Jetzt frage ich mich, was sein wird, wenn die Kraftwerke unserer Gedanken stillstehen.»
Salome staunte darüber, wie rund und beinahe mühelos ihr Grossvater vor sich hintrampte. Manchmal blieb sein Blick an etwas hängen oder tauchte vielmehr darin ein. Sie folgte seiner Kopfbewegung und sah eine Wolke über einen bewaldeten Hügel streichen. Wie viele Augen vor ihnen haben das schon gesehen? Wie viele Augen nach ihnen werden es sehen? Für einen Augenblick war ihr, als ob sie mit allen Augen gleichzeitig schaute, wie die Wolke aus der unendlichen Tiefe der Zeit hinter dem Hügel verschwand.
In Bad Tölz fuhr Salome voraus. Sie fand das Hotel schnell, das sie im Voraus gebucht hatte. Die Rezeptionistin nahm sich Zeit für Ihre Gäste. Dieses Haus, erklärte sie, sei noch vor den Aufständen der Bauern, die 1525 eine frühe Fassung der Menschenrechte proklamiert hätten, erbaut und seither oft renoviert und erweitert worden, das Neue in würdevollem Zwiegespräch mit dem Alten. Gerne wolle sie Ihnen die Räumlichkeiten zeigen, die Ihnen neben Ihren Zimmern zur Verfügung ständen. Sie führte Ihre Gäste eine Wendeltreppe hinab und erklärte: Noch bis in die späten 2050er Jahre sei das Untergeschoss als Tiefgarage benutzt worden, danach sei ein Wellnessbereich eingebaut worden und seit 2069 gebe es hier Räumlichkeiten, die dem seelisch-geistigen Wachstum dienten: Raum der Einkehr, der Begegnung und Berührung, des gemeinsamen Kerns aller Weltreligionen, des Abschieds vom Patriarchat.
Da sie hungrig waren und möglichst bald duschen und essen wollten, schauten sie nur kurz in die Räume, vor dem Abschied vor dem Patriarchat blieben sie aber länger stehen.
«Hier drinnen wird Fluch und Segen des Patriarchats erläutert», sagte die Rezeptionistin.
«Segen?», fragte Salome.
«Die Industrialisierung förderte den materiellen Wohlstand der Menschen, schaffte günstige Bedingungen für Demokratie und Bildung. Ihr Fluch war Gewinnstreben, Kolonialisierung, Ausbeutung und Verschmutzung der Natur, Unterdrückung der Frauen und Menschen der LGBTQ-Bewegung. Das haben wir zum Glück überwunden, indem unsere Orientierung vermehrt nach innen gerichtet ist.»
Nachdem sie am nächsten Morgen gepackt, die Wasserflaschen gefüllt und die Räder beladen hatten, empfand es Salome wieder, das Geheimnis des Losradelns: den Ort, der sie auf- und angenommen hatte, noch nicht verlassen zu haben, aber auch im Fahrtwind noch nicht Zuhause. So muss sich ein Schmetterling fühlen, der einem Kokon entschlüpft ist und erste Flugversuche unternimmt.
Sie radelten an der Industriezone vorbei und sahen Humanoiden Plexiglasrohre für den Vaku zusammenschweissen. Als sie wieder in den Wald kamen und unter den Bäumen die Restkühle der Nacht spürten, sagte Salome:
«Grossvater, ich bin verliebt!»
«Aber Salome, du hast doch einen Freund.»
«Grossvater, das sagt Mensch nicht mehr», belehrte Salome lachend, «denn erstens definiert Freund das Geschlecht, während Liebespartner geschlechteroffen ist. Und zweitens klingt bei haben Besitz an. Liebe und Besitz widersprechen sich.»
«Verstehe, aber lass uns Verliebtsein nicht zerpflücken.»
«Nach unserem gestrigen Nachtessen war ich im Raum der Begegnung und Berührung. Da fühlte ich einen Finger, der vom Nacken über meinen Rücken bis zum Gesäss streifte, und mir war, als öffnete sich in mir die Türe zu einem anderen, subtilen Körper. Ich bin immer noch ganz verwirrt.»
«Mit der Freiheit wächst die Verantwortung.»
«Und die Antwort wird immer komplizierter.»
«Oder einfacher», sagte Grossvater und lachte. «Aber lass mich erklären. In den 2040er Jahren geschah ein tiefgreifender Umschwung in der Pädagogik. Bei allen Verhaltens-, Ausdrucks- und Denkweisen stellte Mensch sich die Frage: Ist es ein Ausdruck von Liebe oder ein Ruf nach Liebe? Dies veränderte nicht nur die Pädagogik, sondern alle Lebensräume. Keine intellektuellen Ideologien, keine noch so ausgeklügelten spirituellen Systeme, sondern die Liebe selbst wurde zur Grundlage der Betrachtungsweise.»
Salome schwieg. Sie liess Grossvaters Worte ausklingen, im Vertrauen darauf, dass sie später in ihr einen Resonanzraum finden werden. Jetzt wollte sie den Fahrtwind geniessen, als ob Küsse über ihre Wangen streiften …
«Du hast Mathematik studiert, Salome. Warum eigentlich Mathematik?», fragte Grossvater.
«Mathematik ist abstrakter als die Naturwissenschaften und logischer verknüpft als die Geisteswissenschaften. Sie ist die unendliche Annäherung ans Unfassbare.»
«Ist das nicht frustrierend?»
«Nicht, wenn ich mich der unendlichen Annäherung ergebe.»
Je mehr sie sich München näherten, umso mehr Fahrradfahrer waren unterwegs, jedoch hatten sie immer noch genügend Platz, um nebeneinander zu radeln. Die Autobahnen waren umgebaut worden, eine Fahrrichtung wird nur von Rädern benutzt.
«Weshalb tragen so viele seidene Tücher, die im Fahrtwind flattern?», fragte Grossvater.
«Sie erinnern an die Seele, die mit ihnen fährt.»
«War das nicht schon in den 2060er Jahren so? Ich habe vieles vergessen. Was waren seit meinem Unfall die wichtigsten weltpolitischen Ereignisse?»
«Hui, Grossvater! Ich will es versuchen. Einerseits geschah der Zusammenschluss von Nationen zu Verbunden. Kein Land wurde allein gelassen und die Brüche – ähnlich der japanischen Kunst des Kintsugi – mit dem Gold multiperspektivischen Verständnisses geheilt. Die Verbunde ihrerseits suchten miteinander nach Kompromissen, um die globalen Probleme zu lösen. – Andererseits einigten sich alle auf ein Weltgericht, dessen Gesetze auf den Menschenrechten basieren und von einem Weltparlament weiterentwickelt werden. Das Parlament wiederum setzt sich zusammen aus führenden Wissenschaftlern, Kulturschaffenden und spirituellen Vertretern aus aller Welt, die von einer universellen Moral geleitet sind. Die Weltpolizei sorgt für die Durchsetzung der Weltordnung.»
«Funktioniert das?»
«Wir sind auf dem Weg, Grossvater. Vielleicht erfahren wir an den Verhandlungen des Weltgerichthofes in München mehr darüber, wie es funktionieren könnte … Schau, Grossvater, die kuppelartigen Häuser am Flusslauf der Isar. Das sind Sterbehäuser. Du solltest sie in der Nacht sehen, wenn sie leuchten! Menschen sollen nicht in Krankenhäusern, Heimen oder dunklen Zimmern sterben. Sie sollen im Licht aufgehen. Du kennst vielleicht den Volksmund: Was für die Raupe das Ende, ist für den Schmetterling die Wende.»
Sie machten eine Pause, lehnten ihre Räder an den Stamm einer Linde und setzten sich ins Gras. Salome erinnerte sich an ein Haiku, das sie im Tagebuch ihres Grossvaters gelesen hatte:
Die Linde hütet
Das Geheimnis der Winde:
Bewegte Ruhe
«Hast du Angst vor dem Sterben, Grossvater?»
«Ich hatte grosse Angst vor dem Sterben. Ich schmückte mich mit Büchern, schrieb Geschichten und Gedichte. Doch der Tod stoppt jedes Gerede. Da entdeckte ich die Kleinunsterblichkeiten, zum Beispiel die Lindenblätter im Wind. Ich vertraue darauf, dass ich mich in einer Stille wiederfinden werde, die in allen Dingen ist.»
Sie schwiegen. Tranken Wasser. Schauten auf die Isar und lauschten der Klangvielfalt ihres Rauschens.
«Wann ist die Gerichtsverhandlung, Salome?»
«Morgen um zehn Uhr.»
«Sollen wir den … Vaku nach München nehmen und dort übernachten?»
Am nächsten Morgen kamen sie gerade noch rechtzeitig in den Gerichtsaal, der einem grossen Amphitheater glich, aber mit einem gläsernen Spitzdach bedeckt war. Salome las den Satz, der in grossen Lettern über der Richterin stand: Was immer dein Urteil ist, vergiss nicht, dass du Teil des Urteils bist, bevor die Richterin mit dem Hammer auf den Tisch schlug und die Sitzung eröffnete:
«Nachdem wir das letzte Mal die Klage von Pflegefachfrauen gegen ein KI-Unternehmen, das Mitgefühl und Empathie für ihre Humanoiden beanspruchte, gutgeheissen haben, geht es heute um die Klage von Kindern und Jugendlichen gegen das Bildungswesen. Ich bitte die Ankläger, das Wort zu ergreifen.»
Aus einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen aus aller Welt, die linkerhand der Richterin sassen, stand jemand auf und erhob das Wort:
«Seit der Einführung des Grundlohnes für alle, hätten die Prioritäten im Bildungswesen anders gesetzt werden müssen. Es geht nicht mehr um die Ökonomisierung des Wissens, sondern um die Entwicklung der Persönlichkeit mit seinen vielfältigen Fähigkeiten. Viele Schulen würden wohl nun behaupten, genau das sei ihr Ziel. Jedoch unterliegen sie dem Wahn der totalen Erfassung. Wie früher nur Spitzensportler sind wir Schüler:innen gläsern geworden: Alles wird gemessen, für alles gibt es einen Test, überall wird eingeordnet, um uns die vermeintlich besten Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Dabei geht das Vertrauen in die Entwicklung verloren, das Vertrauen in das Mysterium Leben, das seinen eigenen Herzschlag hat.»
Die Augen der Richterin blieben lange auf der Anklägerin ruhen. Vom Pult der Verteidigung her war ein Räuspern zu hören. Eine Wolke zog über das gläserne Dach. Salome fühlte eine Hand auf ihrer Schulter.
«Ich freue mich», sagte Grossvater, «ich glaube, wir sind weitergekommen.»
Autor: Bernhard Brack, Dezember.2024
aus: «Sonnenerwachen. Facetten des Aufbruchs»
Ein Jugendlicher sucht Kontakt, indem er immer wieder Grenzen überschreitet.
Woher kommt der Wind?
von Bernhard Brack, September 2024
Welch sinnvollere Aufgabe gab es für einen pensionierten Sozialarbeiter und Radler, als eine Kleinklasse von pubertierenden Jungs und Mädels auf einer Radtour um den Bodensee zu begleiten? Einzig der Regen und die Kälte dämpften meine Vorfreude. Doch trotz des garstigen Wetters und wenig erfreulicher Prognosen wollten die meisten losradeln. Die Tour begann damit, dass jemandem die Kette riss (wir deshalb ein Rad mieten mussten), zwei Mädchen bei der ersten leichten Steigung vom Rad stiegen und die vier Jungs, die vorausfuhren, nicht am vereinbarten Ort warteten.
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Beim ersten Unterstand – inzwischen regnete es in Strömen – an dem wir alle wieder einsammelten, stiess ein Junge, Ari, mit seinem Vorderrad immer wieder gegen mein Hinterrad, und überhörte meine Bitte, damit aufzuhören. Ich kochte. Kochte noch mehr, als wir weiterradelten und er trotz wiederholter Aufforderung auf der Gegenfahrbahn fuhr, direkt auf Entgegenkommende zu, bis diese erschrocken läuteten. Erst im letzten Moment wechselte er die Fahrbahn. Zum Schäumen brachte er mich, als er einer jungen Frau hinterherfuhr, seinen Kopf über die Lenkstange neigte und ihr auf den Hintern schaute. Wie von einer Tarantel gestochen fuhr ich dazwischen und schrie ihn an, was die Frau erschreckte. Er grinste unschuldig. Ich hätte ihn anbrüllen mögen, hielt mich aber zurück. Wie kann ich jemandem gegenüber respektvoll und tolerant sein, der selbst keinen Respekt und keine Toleranz zeigt?
Nach zwei Tagen brauchte ich eine Auszeit, denn besonders vier Jungs, zu denen auch Ari gehörte, provozierten mich bis aufs Blut: Sie riefen mich stets mit verhunztem Namen, verschwanden aus der Gruppe, um einen Kebab zu essen, provozierten Spaziergänger und Bettler, rissen aus Gärten Blumen ab oder verhöhnten kleine Schulkinder. Zum Fremdschämen – und das in einem fremden Land. Ich hatte als guten Onkel auf die Radtour gehen wollen, der ihnen die Freiheit und Schönheit des Radelns näher bringt, stattdessen fühlte ich mich auf einen Wachhund reduziert. Schon lange nicht mehr hatte ich mich so laut brüllen gehört.
In einer schlaflosen Nacht versuchte ich zu verstehen. Was suchten sie? Grenzen, ja, aber warum nahmen sie mir die Möglichkeit, Grenzen liebevoll oder wenigstens respektvoll zu setzen? War es der Hunger nach Anerkennung, nach ungeteilter Aufmerksamkeit? Wie weit konnte ich den Bogen spannen, sie einerseits zu verstehen und andererseits klare Grenzen zu setzen? Ich grub in meiner eigenen Jugend und fand ein Erlebnis, bei dem ich einen Lehrer zur Weissglut getrieben hatte. Da spürte ich sie wieder, jene Energie, die Autoritäten vom Sockel stossen will, um das Eigene zu finden.
Nach der Radtour geschah etwas Überraschendes. Ausgerechnet Ari, der mich am meisten provoziert hatte, fragte beim Klassenlehrer an, ob ich ihn beim Lernen unterstützen könne. War es möglich, dass meine Arbeit im Garten der Gedanken fruchtete?
Bei unserem ersten Gespräch hatte ich eine Tasse dampfenden Tees vor mir, die Ari länger anschaute.
«Willst du auch einen Tee?», fragte ich ihn.
«Gerne», antwortete er, und wir gingen zusammen ins Lehrerzimmer, um einen Tee zu kochen. Alleine dürfe er nicht in dieses Zimmer, sagte er. Es war der erste Akt unserer Komplizenschaft.
Ich erfuhr von ihm, dass er manchmal um zwei, drei Uhr morgens in die Stube schlich, um am Fernseher zu zocken.
«Was ist das?», fragte ich ihn.
«Sie wissen nicht, was das ist?! Wo sind wir denn hier!»
Er zeigte mir an seinem Mobiltelefon verschiedene Computerspiele, bei denen Mensch die feindlichen Krieger killen musste und level um level aufsteigen konnte, je mehr Mensch killte.
Er erzählte mir, dass Vater und Mutter arbeiteten, er manchmal Angst vor seinem grossen Bruder habe, der zwar in einer eigenen Wohnung lebe, aber ab und zu nach Hause komme und ihn anschimpfe, wenn er schlechte Noten habe. Die Ehre der Familie stehe auf dem Spiel.
«Sie», fragte er mich, «woher wissen wir eigentlich, dass heute Montag ist?»
«Ich habe heute Morgen auf dem Kalender nachgeschaut», antwortete ich.
«Ja, aber der Kalender wird von jemandem gedruckt. Woher weiss der, dass heute Montag ist?»
Konventionen. Woher kommen sie? Wer begründet sie, die uns vermeintliche Sicherheit geben?
Er wollte sich nicht länger bei diesem Thema aufhalten, scrollte zum nächsten, erzählte mir von einem Mädchen, das er liebte, aber noch nie getroffen hat.
Wir trafen uns einmal die Woche, sprachen miteinander, bereiteten uns auf Prüfungen vor oder spielten Schach. Er wollte endlich einmal seinen Vater besiegen.
Als wir uns auf eine Englischprüfung vorbereiteten, versprach ich ihm eine Belohnung, wenn er eine Note fünf (gut) oder darüber schreibt.
«Was möchtest du?»
«Eine Radtour.»
Er schrieb eine 5,25!
«Wie fühlt es sich an?», fragte ich ihn.
«Gut», sagte er, «wie früher, als ich gute Noten schrieb.»
Als es zum Tag der Belohnung kam, schneite es, obwohl der Frühling schon begonnen hatte. Also wünschte er sich, mit mir in ein Café in der Stadt zu gehen. Eine grosse Überraschung war seine Wahl des Restaurants, das zur alternativen, grünen Szene gehörte.
«Woher kommt der Wind?», fragte er mich, während wir durch die Stadt schlenderten.
Was für eine poetische Frage! Natürlich, es gibt wissenschaftliche Antworten, Luftdruck, Temperaturunterschiede, Erdrotation – aber gibt es nicht auch Sternenwinde? Gibt es einen verborgenen Winkel oder eine noch so weite Weite, die der Wind nicht kennt?
Er liess mir keine Zeit, um über eine Antwort nachzudenken, stupste mich an, warf eine Kusshand über die Strasse und sagte:
«Wenn Sie einen Kebab essen wollen, dann müssen Sie dorthin gehen. Und hier, in diesem Kiosk, da arbeitet ein echter Ehrenmann. Er hat mir schon als Kind ab und zu Süssigkeiten gegeben … Und hier, hier wohne ich. Sie glauben mir nicht?»
Er klaubte einen Schlüssel aus dem Portemonnaie und öffnete die Türe eines Wohnblocks unmittelbar neben dem alternativen Restaurant.
«Sehen Sie!»
Er liess die Türe wieder zuschnappen und strahlte mich an. Da verstand ich. Er hatte mich zu sich nach Hause geführt.
Autor: Bernhard Brack, September.2024
aus: «Triumphe der Toleranz»
Die Geschichte eines Vaters, der von seinen Söhnen enttäuscht ist, findet eine überraschende Wende …
Vater
von Bernhard Brack, Juni 2024
Mein Vater ist seit zwölf Jahren tot.
Tot ist ein kurzes Wort, der Kreis in der Mitte umgeben von zwei Kreuzen.
Was ist zur Vollendung gekommen, und welche Triebe wachsen weiter, tasten nach Licht?
Als ich die Urne von der Kirche zum Friedhof trug, lag ein gewöhnlicher Aprilhimmel über dem Dorf, der Weg war derselbe, den ich als Bub zum Konfirmationsunterricht gegangen war, und Autos fuhren wie immer über die Strasse.
Doch dieses Mal hielten sie an, als wir uns näherten. Hielten inne in Erstarrung und Andacht zugleich, während ich die Urne über die Strasse trug. Ich fühlte mich wie ein Wasserläufer: das Absetzen des Fusses, Verrutschen des Hemdes, Anheben eines Haarbüschels durch eine Windböe, jede Bewegung lief in feinen Wellen aus, während unter glänzendem Spiegel ein dunkler Abgrund, das Mysterium Tod, lauerte.
Später, als ich auf der letzten Reise mit Mutter auf den Wegen ihrer Erinnerungen ging, sie mir erzählte, dass sie hier gemeinsam gegessen hätten, er dort bei jenem Gut Wein bestellt habe, er sich hier, bei diesem Stein, hingesetzt und gesagt habe: Ich kann nicht mehr, da wurde seine anwesende Abwesenheit so schwer, dass ich im Boden zu versinken drohte.
Als Mutter den Mond über einen Hügelrücken rollen und dahinter verschwinden sah, sagte sie: «So bist du untergegangen, Väterchen.»
Vater hatte grosse Pläne mit uns, seinen drei Söhnen. «Zwei Menschen, die zusammenhalten, kaufen die Welt und drei Dörfer dazu», hatte er gesagt. Ihm schwebte der Bau einer Fabrik vor, so gross, dass man auf deren Dach die Erdkrümmung erkennen konnte. Bei Sonntagsspaziergängen sagte er: «Wer zuerst ein Eichenblatt findet, bekommt fünf Rappen», wobei er darauf achtete, dass der Jüngste die geringste Distanz zu laufen hatte. Für die Bestnote, eine Sechs, versprach er uns einen Quadratmeter des Gartens. Wenn Mutter sagte, «Hauptsache sie sind gesund», wurde er wütend: «Wir sind doch nicht auf dieser Welt, um einfach nur gesund zu sein! Wir sind hier, um etwas zu leisten, etwas Besseres zu leisten als die andern.» Ich brauchte Jahre der Meditation, um die Köstlichkeit des Einfach-nur-Daseins zu erfahren. Und ich brauchte eine Clownschule, um dem Leistungsgedanken ein Schnippchen zu schlagen. Ich durfte meinen Jugendtraum spielen und den Fussball-Meisterpokal in die Höhe stemmen vor meinem Vater und jubelnder Menge. Selten habe ich so gelacht wie in diesem Spiel.
Er hatte grosse Pläne mit uns, doch einer nach dem andern stieg aus. Mein ältester Bruder ging ins Handwerk, der mittlere in den Lehrerberuf und ich, nachdem ich lange seinen Fussstapfen gefolgt war, sogar in einem multinationalen Konzern auf dem zukunftsträchtigen Sektor des Computers gearbeitet hatte, verabschiedete mich in die Sozialarbeit. Niemand da, der übernehmen wird, als er mit siebzig das Büro hinter sich schloss, keiner seiner drei Söhne.
Was für ein Desaster, als mich meine Eltern in einem Heim für körperlich behinderte und psychisch erkrankte Menschen besuchten. «Wie viel verdienst du?», fragte mein Vater. «Was machst du denn den ganzen Tag?», fragte meine Mutter. Auch sie hätte mich lieber in einem Direktionssessel gesehen. «Eine Frau braucht Sicherheit», sagte sie. Nicht jemanden, der von Praktikum zu Praktikum stolpert und erfolglos Manuskripte an Verlage schickt. Es war ein doppeltes Desaster, denn der übertriebene Leistungsgedanke war ja immer noch in mir, noch keineswegs verbunden mit Werten wie Fürsorge und Achtsamkeit.
Vorgestern Nacht träumte ich, dass ich mit der Urne meines Vaters in den karelischen Wäldern Finnlands umherirre und ein neues Grab für ihn suchen muss. Ich brauche nicht so tief zu graben, denke ich, denn er ist in einer Urne. Aber wenn sie in dem moorigen Gebiet wieder an der Oberfläche auftaucht? Besteht dann nicht eine Ansteckungsgefahr?
Als junger Erwachsener glaubte ich, auf die Liebe meines Vaters verzichten zu können. Aber ich weinte jedes Mal, wenn es in einer Geschichte oder einem noch so kitschigen Film um eine Annäherung, Versöhnung oder Wiedererkennung zwischen Vater und Sohn ging. Ich schrieb Briefe an meinen Vater in der heimlichen Hoffnung, jemand möge diese Briefe lesen und mein inneres Ringen verstehen. Bis meine Therapeutin mich fragte: «Warum trauen Sie Ihrem Vater die Briefe nicht zu?». Mir klopfte das Herz, als ich den Brief einwarf. Ich hörte ihn im leeren Kasten widerhallen, und lernte wenig später einen anderen Vater kennen. Er erzählte mir, er sei ein Feigling gewesen, habe Konflikte gemieden aus vorauseilender Angst, verprügelt zu werden. Er sei von Zuhause weggelaufen, habe drei Tage und drei Nächte im Wald verbracht, weil er sich von der Stiefmutter ungerecht behandelt gefühlt habe. Er habe Kaninchen gepflegt und gefüttert und an festlichen Tagen, wenn ein Kaninchen als Braten auf den Tisch kam, keinen Bissen heruntergebracht. Er sei schmächtig gewesen und in allen Mannschaftssportarten als letzter gewählt worden. Deshalb habe er es mit guten Schulnoten allen zeigen wollen. Er habe das Militär gehasst, Nächte durchschwitzt aus Angst vor Maschinengewehr und Handgranate. Unfassbar war für mich, dass er als junger Erwachsener an demselben neurotischen Handzittern gelitten hatte wie ich im gleichen Alter.
Dann kamen die ersten Enkelkinder auf die Welt und sobald sie etwas grösser wurden, spielte er mit ihnen, baute mit ihnen Schlösser aus Holzklötzen, liess sich von ihnen helfen, wenn seine Hand zu sehr zitterte, brachte ihnen Pingpongspielen, Fahrradfahren und Schwimmen bei, erzählte ihnen Geschichten und ging mit ihnen in den Wald, um Würste zu braten. Er öffnete sich für die Welt der Kinder, auch wenn er, nachdem er zu arbeiten aufgehört hatte, an innerer Unruhe litt, oft nächtelang nicht schlafen konnte.
In jenen letzten Jahren vor seinem Tod entwickelten wir ein Ritual: Am Neujahr, wenn alle ins Bett gegangen waren, redeten und tranken wir miteinander, zogen Jahres- und Lebensbilanz, während im Hintergrund Musik lief, oft war es Le jardin de Luxembourg, encore un jour sans amour. Wir nannten das Lied von Joe Dassin das Lied mit dem ewigen Umlauf.
«Natürlich war ich enttäuscht von euch», sagte er. «Ich hatte gedacht, ihr würdet wenigsten den höchsten Hausberg besteigen.» Als ich ihm erklärte, auch ich wolle den höchsten Hausberg besteigen, aber für mich sei der höchste Hausberg eine gute Geschichte, ein stimmiges Gedicht zu schreiben, da blieb er eine Weile still und ich glaubte zu hören, wie die Worte langsam in ihn einsickerten.
Mein Vater starb schnell, wie er es sich gewünscht hatte. Zuerst stieg die Niere aus, dann die Leber und schliesslich alle Organe. Eine Blutwäsche wollte er nicht.
Drei Tage vor seinem Tod besuchte ich ihn im Krankenhaus.
«Willst ein Bier, Vater?», fragte ich ihn.
«Ja, hol uns ein Bier. Und dann schauen wir Championsleague.»
Mein Vater nippte am Bier, ich an meinem. Früher tranken wir zügiger. Der Bildschirm war klein und wir konnten die Spielzüge nur grob erkennen. Wir schauten, tranken und schwiegen. Irgendwann Mitte der zweiten Halbzeit fragte er:
«Du, mein Sohn, wohin muss ich stehen, damit wir dieses Spiel gewinnen? Wir wollen es doch gewinnen.»
Als ich mit dem Rad nach Hause fuhr, krochen im Fahrtwind Tränen von den Augenwinkeln über die Krähenfüsse bis zur Schläfe. Plötzlich heulte ich los. Die Welt verschwamm vor meinen Augen.
«Ja, Vater», sagte ich, «ja, ich glaube, wir gewinnen dieses Spiel.»
Autor: Bernhard Brack, Juni 2024
aus: «Mein Vater… und ich»
Ein einfacher Hirte, dessen Frau unter grössten Schmerzen geboren hat, findet den Weg zur Krippe in Bethlehem und kann dem Heiligen Ereignis vorerst nichts abgewinnen …
Lichtsprung
von Bernhard Brack, Mai 2024
Es hatte seit Wochen nicht mehr geregnet, die Erde war so trocken, dass sie Risse bekam. Wenn er mit seiner Herde Stellen aufsuchte, wo noch spärlich Gras wuchs, wirbelte sie Staub auf. Auch in der Luft war wenig Feuchtigkeit, sodass es in den kalten Nächten kaum Tau absetzte.
Wie konnte er seine Frau und das Neugeborene durchbringen?
Aus einem Kümmernis wurde ein nächstes wie aus Staubwolken immer neuen Staubwolken wuchsen, wenn die Herde nach Gras suchte.
Was wird aus ihren Eltern werden, die schon seit Tagen auf das Essen verzichteten, damit wenigstens sie durchkamen? Was mit einem Volk, das in einem Land lebte, das keine Nahrung mehr hergab?
Die Herde wurde auch in der Nacht nicht ruhig. Die Ziegen schauten ihn länger und ungeduldiger an, sie meckerten lauter als sonst. Ihr Meckern kam ihm manchmal vor wie ein spöttisches Lachen, das dem Kehlkopf entsprang. Auch die Düsternis seiner Frau war schwer zu ertragen. Sie hatte kaum noch Milch, um den Säugling zu ernähren.
Er holte seine Flöte aus dem Zelt, warf einen Blick auf seine erschöpfte Frau und das schlafende Kind, spürte die Bitternis in seinem Herzen und verliess beide wieder, um sich an einen Felsen zu setzen und zu spielen. Er liess die Klänge mit seiner ganzen Trauer über den staubtrockenen Hügelrücken gleiten, und hätte die Luft weinen können, es hätte geregnet.
Da hörte er Aufruhr bei den Hirten in der Nähe.
Ein Engel sei erschienen, hiess es, in himmlischem Licht habe er erstrahlt und er sei begleitet gewesen von einer Heerschar von Engeln. Er habe die Geburt des Erlösers verkündet.
Der Hirte, er hiess Isaak, schaute auf zum Mond, dessen Licht auf die staubtrockene Erde schien. Das soll das himmlische Licht sein?, fragte er sich.
«Ich weiss, wo der Erlöser geboren wurde», sagte Isaaks Freund, «komm, wir gehen hin.»
Isaak verabschiedete sich von seiner Frau, «nur für kurze Zeit», sagte er, «es heisst, der Erlöser sei geboren.»
Isaak zog los mit einer Gruppe von Männern. Sie marschierten schnell, ihre Schritte klangen dumpf und schwer als zögen sie in einen Krieg. Obwohl es kalt geworden war in der Nacht, biss Schweissgeruch in Isaaks Nase. Riecht so himmlische Begeisterung?, fragte er sich.
Sie fanden das Kind in der Krippe. Maria sass in stiller Dankbarkeit daneben. Sie knieten nieder. Warum kniete niemand vor meinem Kind nieder, als es geboren wurde, dachte Isaak. Warum entfernten sich alle vor den Schmerzensschreien meiner Frau während der Geburt?
Während seine Knie auf der staubigen Erde zu schmerzen begannen, hörte er die anderen Gebete murmeln. Segensformeln. Und er murmelte mit. Plötzlich fühlte er sich aufgehoben im Strom des Gemurmels und er entdeckte das Licht, das aus Jesus und Maria strahlte. Etwas hatte ihm die Augen geöffnet. Und was er sah, fühlte er auch in sich leuchten, in seinem Kind, in seiner Frau.
Isaak lebte von nun an als Mensch, der Gott nicht mehr fürchtete, sondern liebte. Das Licht, das er in seiner Frau und seinem Kind sah, sprang über zu den Geissen, dem Hirtenhund, den Grashalmen im Wind. Es sprang über zu seinem Mühsal, dem Mond und der Sonne, die jeden Morgen wieder aufging. Abends schaute er seinen Ziegen in die Augen. Ihre Pupillen glichen einem schmalen Schlitz für einen Brief ans Universum. Er schrieb: Ich danke Dir, dass Du uns am Leben erhältst. Da hörte er Tropfen fallen, erst hier, dann dort, immer schneller, immer mehr, es trommelte auf die Erde, prasselte auf sie nieder. Er ging in das Zelt zu Frau und Kind, umarmte sie und weinte vor Freude. Seine Tränen tropften auf sie nieder.
Seine Frau gebar noch zehn weitere Kinder. Als er alt war, seine Schmerzen ihm kaum noch viel mehr erlaubten, als vor dem Zelt zu sitzen, rannte sein achtjähriger Sohn auf ihn zu und sagte:
«Komm, Vater, komm, auf dem Dorfplatz geschieht etwas Schlimmes.»
Isaak erhob sich unter Schmerzen und folgte seinem Sohn. Auf dem Dorfplatz hatte sich eine Menschenmenge um eine Frau versammelt. Alle hielten einen Stein in den Händen.
«Sie hat gesündigt!», riefen sie. «Sie hat die Ehe gebrochen, sie verdient den Tod!»
Da durchschritt ein junger Mann die Menschenmenge und trat neben die Frau. Sie weinte und zitterte am ganzen Körper. Er legte den Arm um ihre Schultern wie einen warmen Mantel und sagte zu den Menschen:
«Wer noch nie einen Fehler begangen hat, der werfe den ersten Stein.»
Eine Weile blieb es still. Dann fiel der erste Stein mit dumpfem Aufprall auf den Boden. Ein zweiter, dritter und viele folgten. Beschämt ging die Menschenmenge auseinander.
«So möchte ich auch einmal werden», sagte sein achtjähriger Sohn. Isaak lächelte und behielt alles in seinem Herzen wie damals Maria im Stall von Bethlehem.
Autor: Bernhard Brack, Mai 2024
aus: «Damals… in Bethlehem»
Die Geschichte einer Frau, die ihren Weg aus komplizierten Familienverhältnissen findet – auch dank ihrer Liebe zum Bodensee.
Ein zweites Leben
von Bernhard Brack, April 2024
Wie ein blutiger Fisch sei sie aus dem Körper ihrer Mutter geflutscht, und ihre Augen hätten blau geleuchtet wie Vergissmeinnicht, hatte ihr Vater über ihre Geburt erzählt. Erst als die Erzählung schon so alt geworden war, dass sie nicht mehr erzählt wurde, begriff sie, wie viel Liebe in seiner Metapher steckte.
Denn Vergissmeinnicht war seine Lieblingsblume und der Fisch entsprang seiner Liebe zum See, zum Bodensee.
Vergissmeinnicht. Manchmal hätte sie sich gewünscht, sie wäre in ihrer Familie weniger vergessen gegangen.
Ihr Vater war Lehrer. Jeden Morgen, wenn er zur Schule ging, sah er den Bodensee, die wechselnden Blautöne, die Reflektionen des Lichts, die Wolken, die sich vom anderen Ufer her bis zur Mitte hin spiegelten, das Glitzern der Wellen oder bei Sturm die Schaumkronen, die wie weisse Gebisse die Oberfläche durchbrachen und wieder verschwanden. Abends, wenn er in seinem Zimmer Klavier spielte, schienen seine Klänge den Möwen gleich über den See zu gleiten. Schon sein Onkel hatte den Bodensee geliebt. An Wochenenden fuhr er mit seinem Zweitakter an stets andere Orte und fotografierte ihn aus unterschiedlichen Höhen in seinen wechselnden Lichtreflexen.
Ihr Vater liebte die Badehütte, konnte dort Energie für die nächste Woche auftanken. Manchmal, wenn er in den See hinausschwamm, erinnerte er sich an die Geschichte einer alten Frau, die ihm erzählt hatte, sie sei als Mädchen so voller Energie gewesen, dass sie einfach losgeschwommen sei, immer weiter hinaus, und als sie sich umgedreht habe, habe sie gesehen, dass es auf beide Seiten gleichweit war. Als sie am anderen Ufer aus dem Wasser gestiegen sei, habe sie am ganzen Körper gezittert wie ein Vögelchen, das aus dem Nest gefallen war.Manchmal wäre auch er am liebsten hinausgeschwommen, immer weiter hinaus, denn zuhause gab es Sorgen. Seine Frau, die es allen rechtmachen wollte, litt an Depressionen. Sie, die einmal die schönste Frau im Dorf gewesen war, durfte nach der Heirat diese Seite nicht mehr leben, ihre Liebe zu schönen Kleidern und eleganten Schuhen. Was würden die Leute denken über die Frau Lehrerin. Ja, was würde man über sie denken, über ihre Familie! Und wenn sie für die Verwandten kochen musste, was für ein Grauen! Das Silberbesteck ihrer Grossmutter, das Rezept ihrer Mutter, und sie? Sie begann Kochwein zu trinken, um wenigstens für Augenblicke dem Gefängnis zu entweichen. Später trank sie Kochwein auch im Alltag, bis sie nicht mehr kochen konnte und ihr Mann sie in die Klinik bringen musste. Dort malte sie, doch es war zu spät, ihre Talente konnten keinen Fuss mehr fassen.
Seine ältere Tochter übernahm von ihrer Mutter, es allen recht machen zu wollen. Nicht nur der Mutter und dem Vater, auch den Nachbarn, der Lehrerin, dem Lehrmeister. Nur nicht die Kontrolle verlieren! Doch mit dieser Richtschnur begann sie die Kontrolle zu verlieren. Es folgten mehrere Klinikaufenthalte, schliesslich wurde das Heim unumgänglich.
Aber seine jüngere Tochter entwickelte sich «normal».
Manchmal hätte sie sich gewünscht, sie wäre weniger «normal» gewesen. Dann hätte sie mehr Aufmerksamkeit bekommen. Als sie ihre Normalität mit eigenen Farbtupfern und Fähigkeiten auszustatten und gegenüber andern zu behaupten begann, da lernte ich sie kennen.
Ich lernte sie kennen und lieben. Wir radelten oft dem Bodensee entlang.
«Riechst du ihn?», fragte sie mich, und ich begann Schilf zu riechen, Seegras und sonnenwarme Steine. Zwischendurch hielten wir an und nahmen ein Bad. Wir wateten an untiefen Stellen weit in den See hinaus.
«Spürst du ihn?», fragte sie mich. «Ein seidener Faden, der erst die Füsse, dann die Beine, den Bauch, die Oberarme umfasst und von dem aus kühle Seide den Unterleib umhüllt. Nirgends ist das Wasser so weich wie im Bodensee», sagte sie und lachte.
Wir übernachteten im «Wilden Mann» und schauten über den Bodensee, während wir uns liebten.
Es gab Zeiten, da wusste ich nicht wohin mit meiner Energie. Ich rannte auf die Hügel in der Umgebung unseres Wohnorts und sah Wolken, die in einer optischen Täuschung Stufen bildeten hinab zum Bodensee. Ich sah sie in ihm wie in einer Badewanne und sie rief mir zu: «Komm, komm zu mir!». Ich rannte den Hügel hinab und klopfte an ihre Türe.
Es folgten Jahre des Zweifelns, des An sich Reibens, des Neu sich Findens. Jahre der Kinder. Jahre der Arbeit, des Alltags, der Annahme des andern wie sie oder er ist. Kurz nach der Pensionierung ihres Vaters starb ihre Mutter. Sie fühlte sich unwohl und suchte ihren Arzt auf. In der Praxis erlitt sie einen Aortariss und verstarb innerhalb weniger Minuten. Sie schied dort aus ihrem Leben, wo sie sich am sichersten fühlte: in der Nähe von einem Arzt.
Ihr Vater fand sich alleine Zuhause nicht mehr zurecht. Er brachte nicht mehr die Kraft auf, in die Badehütte zu gehen. Die Einweisung in eine Klinik wurde unumgänglich. Sie diagnostizierten Altersdepression. Neben ihm wohnte ein Mann, der an derselben Krankheit litt. Eines Tages war sein Zimmer leer. Er hatte sich vor den Zug werfen wollen, doch zwei Stufen, bevor er das Geleis erreichte, stürzte er und musste in den Spital eingeliefert werden.
Nach dem Klinikaufenthalt folgte der Eintritt in ein Pflegeheim. Als er nicht mehr gehen konnte, führten wir ihn im Rollstuhl spazieren. Er streckte seine Hand aus und zeigte auf den Bodensee. Wir blieben stehen: «Dort», sagte er, «dort, mitten im Bodensee, möchte ich als Geschenk Gottes versinken.»
Es war in jener Zeit, als bei uns kurz vor Mittag das Telefon läutete: die Leiterin des Heimes, in dem ihre ältere Schwester lebte. Sie habe sich aus dem Fenster ihres Zimmers im vierten Stock gestürzt, auf das Kopfsteinpflaster des Innenhofs. Kaum hatten wir das Telefon aufgehängt, da hörten wir die Sirene des Krankenwagens.
Ein Jahr nach dem Tod ihres Vaters nahm sie ihre erste Klavierstunde. Sie wolle nicht die Technik erlernen, sagte sie, sondern die Klänge ertasten, sie fliessen lassen, mit Kürzen und Längen spielen, den Rhythmus erspüren. Klänge ihrer Kindheit.
In der Nacht träumte sie:
Ich gehe mit meinem Vater dem Bodensee entlang. Hohe Wellen schwappen über das Ufer, Wasserzungen fliessen über den Weg, Gischtblasen platzen auf den Steinchen. Es rauscht mächtig vom See her und in den Platanen, aber ich habe keine Angst. Mein Vater ist so jung wie vor seiner Pensionierung und auch ich bin jünger als jetzt. Wir sind beide sehr elegant angezogen, ich in einem hellen, lichten Kleid. Die Leute auf der Promenade schauen anerkennend auf uns, staunen leise.
Autor: Bernhard Brack, April 2024
aus: «Märchenhafter Bodensee»